Ursula von der Leyen: "Die Diagnose Alzheimer-Demenz war ein Schock" - Exklusiv-Interview
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bekennt Ursula von der Leyen (52) im Exklusiv-Interview mit der
Peoplezeitschrift FRAU IM SPIEGEL. Auf einer gemeinsamen Fahrt mit
ihrem Vater Ernst Albrecht (81) erzählte der ehemalige
niedersächsische Ministerpräsident der Tochter von seiner Krankheit.
"Ich hatte nur das Schreckensszenario des Endstadiums vor Augen", so
die Bundesarbeitsministerin. Das war im Jahr 2003. Heute wünschte
sie, sie hätte anfangs nicht so ein verzerrtes Bild von Alzheimer
gehabt. "Ich erinnere mich, wie ich ihn die erste Zeit argwöhnisch
beobachtet habe, ob sich etwas verändert. Im Rückblick tut es mir
fast leid, dass ich mich sogar als ausgebildete Ärztin so wenig
angemessen verhalten habe."
Die Großfamilie von der Leyen lebt inzwischen bei Ernst Albrecht
auf seinem Anwesen bei Hannover. "Wir wohnen in getrennten Bereichen,
denn jeder braucht seinen Rückzugsraum", so die Politikerin. Ihr
Vater habe den Status eines kleinen Kindes. "Aber mit dem feinen
Unterschied, dass kleine Kinder jeden Tag dazu lernen". Am täglichen
Leben nimmt der 81-Jährige teil. "Er kümmert sich um seine Hühner und
füttert mit sehr viel Spaß unsere Ziegen", erzählt Ursula von der
Leyen. "Wenn wir gemeinsam essen, schweigt er viel und beobachtet die
Kinder. Plötzlich kommt dann irgendeine schräge Bemerkung, so dass
wir alle zusammen in herzhaftes Lachen ausbrechen." Er lebe in einer
begrenzten Welt. "Aber er ist da und mitten unter uns."
"Es ist nicht leicht, die Tochterrolle zu verlassen", gesteht von
der Leyen. "Ich wollte anfangs neben meiner Aufgabe als Mutter
innerlich partout nicht auch noch in die fürsorgende Rolle für meinen
alten Vater hinein." Sie sei dankbar, dass der Verlauf der Krankheit
ihr "viele Jahre Zeit ließ, in diese Rolle hineinzuwachsen".
Tagsüber hat Ernst Albrecht im Wechsel zwei Frauen, die ihn
betreuen. "Die Nächte schafft er noch alleine. Manchmal kommt er
nachts zu uns und wundert sich, dass das Licht am Himmel nicht
angeht. Alzheimerkranke merken immer weniger, wenn sie Grenzen
überschreiten." Das sei ihnen nicht anzulasten, aber für Angehörige
schwer. Deswegen sei es auch für betroffene Familien völlig okay,
klare Trennlinien zwischen sich und der kranken Person zu ziehen.
"Nur wer sich gelegentlich abgrenzt, behält auf der langen Strecke
Energie und Kraft, sich liebevoll zu kümmern."
Über Politik sprechen Vater und Tochter nicht mehr. "Das geht so
nicht mehr", sagt die Ministerin. "Wir sprechen über das Wetter, den
Regen, der nicht aufhört, oder die Sonne, die so schön scheint." In
letzter Zeit beschäftige ihn der Tod. "Er fragt mich, ob er nach dem
Tod zu Gott kommt, ob er meine Mutter dort wiedersieht, und er fragt
ganz oft, wie man stirbt." Als politischer Ratgeber fehle er ihr
nicht. "Seine Zeit war eine andere als meine", erklärt sie. "Er war
schon vor seiner Krankheit klug genug, mir nicht reinzureden, er hat
aber immer interessiert zugehört." Von der Leyen zu FRAU IM SPIEGEL:
"Er war ein starker Vater, den ich sehr bewundert habe, und da hat
sich etwas verändert. Für mich war es deshalb schwierig zu lernen,
dass die Gespräche mit ihm einfacher werden und dass ich diejenige
bin, die für ihn sorgt."
Ursula von der Leyen hat 2008 die Krankheit ihres Vaters
öffentlich gemacht. "Mein Vater ging noch gerne auf Veranstaltungen,
aber er benahm sich zum Teil auffällig, anders als früher", erinnert
sich die 52-Jährige. "Oder er tätigte Geschäfte, machte Zusagen, die
er nicht halten konnte. Ich musste anderen Menschen ständig sein
Verhalten erklären oder ihn vor Erwartungen und Ansprüchen schützen."
Den Schritt in die Öffentlichkeit hat sie nie bereut. "Denn er war
eine Befreiung. Mein Vater kann sich seither völlig unkompliziert
bewegen, da die Menschen sehr verständnisvoll reagieren. Das hat
meine Angst um ihn verringert, und ich muss nicht mehr ständig etwas
erklären oder herumdrucksen."
Dass viele betroffene Familien die Krankheit aus Scham
verheimlichen, kann Ursula von der Leyen gut verstehen. "Es ging mir
am Anfang auch so. Die Peinlichkeit verliert sich aber durch den
offenen Umgang mit der Krankheit. Wenn der Busfahrer einordnen kann,
warum derjenige jetzt unbedingt mit einem Knopf statt mit einem Euro
bezahlen will, wird er nachsichtig. Oder die Bank willigt ein, dass
nicht Unsummen, sondern jede Woche nur eine begrenzte Summe Geld vom
Patienten abgehoben werden darf."
Dennoch bleibe jede Entscheidung eine Gratwanderung.
"Alzheimer-Patienten sind sehr empfindsam. Das Schlimmste für sie
ist, wenn sie nicht verstanden werden und die Gegenseite auf etwas
beharrt." Da komme man in die unerträglichsten Situationen. Bei ihr
stellte sich zum Beispiel die Frage, ob ihr Vater noch Auto fahren
darf. "Ich habe mir Rat geholt beim TÜV. Ein erfahrener
TÜV-Mitarbeiter half mir, die nötige Grenze zu ziehen. Er sagte:
,Nehmen Sie den Autoschlüssel weg, Sie haben jetzt die
Verantwortung.' Das war ein irrer Konflikt, aber er war wichtig und
richtig. Hätte mein Vater zu der Zeit ein Kind überfahren, hätte ich
die Mitschuld gehabt."
Ob die Erkrankung ihres Vaters sie verändert hat? - "Diese
Krankheit verändert Zeit und Raum. Als Ministerin lebe ich in einer
enorm schnell getakteten, auf Effizienz und Wirkung fokussierten
Welt. An meinem Vater merke ich: unterm Strich zählen nur die großen
Linien. Für ihn ist es ein Segen, dass er seine große Familie hat.
Mich macht diese Erkenntnis demütiger und auch ruhiger bei der
unglaublichen Hektik und der Lautstärke, die zuweilen in meinem Leben
herrscht."
Bei der Frage, ob ihr die Erfahrung die Angst genommen hat, an
Alzheimer zu erkranken, ist Ursula von der Leyen "unsicher". Sie
erlebe ihren Vater glücklich. "Aus seiner Sicht nimmt er die
Krankheit nicht wahr. Und trotzdem ist es für mich schwer, diesen
Prozess zu beobachten."
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Datum: 19.07.2011 - 08:30 Uhr
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