WESTERWELLE-Interview für die ?Tagespost? (17.09.2009)
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WESTERWELLE-Interview für die "Tagespost" (17.09.2009)
Berlin. Der FDP-Partei- und -Fraktionsvorsitzende DR. GUIDO WESTERWELLE gab der "Tagespost" (Donnerstag-Ausgabe) das folgende Interview. Die Fragen stellte OLIVER MAKSAN:
Frage: Ihre Partei trägt die Freiheit im Namen. Was verstehen Sie darunter? Was ist der Unterschied etwa zum Freiheitsverständnis der SPD oder der Union?
WESTERWELLE: Für uns Liberale ist Freiheit nicht die Freiheit von Verantwortung, sondern die Freiheit zur Verantwortung ? zur Verantwortung für sich selbst und für seine Nächsten. Die anderen Parteien setzen zuerst auf den Staat und erst dann auf den Bürger, wir setzen zuerst auf die Bürgerinnen und Bürger und erst dann auf den Staat. Bei meinen Besuchen des Katholikentages habe ich zahlreiche Initiativen kennen gelernt, die genau dieses zivilgesellschaftliche Engagement eindrucksvoll vorleben. Der Gedanke der Nächstenliebe, der dieser Arbeit zu Grunde liegt, verbindet uns mit den großen Kirchen in Deutschland und ausdrücklich auch mit den anderen Glaubensrichtungen. Das private, persönliche Engagement ist ein unglaublich wertvoller, fruchtbarer Schatz der Deutschen.
Frage: "Der Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht schaffen kann", lautet ein bekanntes Diktum. Stimmen Sie dem zu? Und wenn ja, welche wären das? Und wer schafft sie?
WESTERWELLE: Ich bin gläubiger evangelischer Christ und gehe nicht aus alter Gewohnheit in die Kirche, sondern aus Überzeugung. Daher weiß ich sehr genau, dass das Zusammenleben einer Gesellschaft in einem Staat nicht nur etwas mit Gesetzen oder Behörden zu tun hat. Eben deshalb vertreten wir ja die Auffassung, dass nicht der Staat das Primäre und die Bürger das Sekundäre sind, sondern dass vielmehr zuerst die Bürger kommen und dann der Staat. Der Staat dient dem Bürger, nicht andersherum. Und die Grundlagen dieses gesellschaftlichen Zusammenlebens sind am besten, wenn wir eine Gesellschaft aktiver Bürgerinnen und Bürger haben.
Frage: Würden Sie einem FDP-Abgeordneten zugestehen, dass er seine persönliche und politische Gewissensbildung am Lehramt des Papstes ausrichtet? Konkret: Wie frei ist ein katholischer FDP-Abgeordneter etwa in Fragen der Verschiebung des Stichtags in der Stammzellforschung?
WESTERWELLE: Nicht ich habe dies irgendeinem Abgeordneten zuzugestehen oder abzusprechen. Unsere Verfassung gesteht diese Freiheit nicht nur zu, sondern macht sie zum Kern der Verantwortung jedes Volksvertreters. Wir haben etliche prominente Katholiken in unserer Bundestagsfraktion. Abgeordnete sind frei und ihrem Gewissen verpflichtet, deshalb sind moralische Fragen auch immer solche, bei denen der sogenannte Fraktionszwang aufgehoben wird. Dies gilt für Fragen wie die Stammzellforschung, aber auch für Sterbehilfe oder Abtreibung. Bei all diesen Gewissensentscheidungen ist es doch selbstverständlich, dass die eigene Haltung zu Werten und Glauben ein zentraler Maßstab ist.
Frage: Wieso engagiert sich Ihre Partei für die embryonale Stammzellforschung?
WESTERWELLE: Weder Gegner noch Befürworter der Stammzellforschung sollten für sich in Anspruch nehmen, die einzigen zu sein, die moralisch argumentieren können. Ich weiß um die Bedeutung des Lebensschutzes. Aber es gibt auch eine Ethik des Heilens. Mit moderner Forschung wie beispielsweise der Stammzellforschung werden wir Tausenden Kranken helfen können. Auf diese Chance will ich nicht verzichten. Und ich will nicht, dass in ein paar Jahren sich nur Reiche im Ausland Therapien leisten können, die für Normalbürger nicht angeboten werden.
Frage: Landläufig assoziiert man die FDP mit Sozialabbau und einem Nachtwächterstaat. Zu Unrecht? Was ist Ihr Verständnis vom Sozialen?
WESTERWELLE: Das sind Uralt-Klischees. Wir bejahen den Statt, denn wir sind Liberale, nicht Anarchisten. Es mag Sie überraschen, aber wir sind nicht nur für den Staat, wir sind sogar für einen starken Staat. Stark ist allerdings nur der Staat, der weiß, was seine Kernaufgaben sind, und sich nicht in Bereichen verzettelt, aus denen er sich besser heraushalten sollte. Nehmen wir ein Beispiel: Ein Staat, der jedem Handwerksmeister vorschreibt, wo er glatte und wo er geriffelte Fliesen verlegen muss, ist nicht stark. Ein Staat, der trotz riesiger Behörden keine funktionierende Bankenaufsicht organisiert bekommt, ist es auch nicht. Dass Bedürftigen geholfen werden muss, versteht sich von selbst. Wir bejahen den Sozialstaat. Wir wollen ihn aber treffsicher gestalten. Und wir wissen, dass alles, was umverteilt werden soll, erst einmal erwirtschaftet werden muss. Wirtschaft ist nicht alles. Aber ohne Wirtschaft ist vieles fast nichts. Deshalb ist eine gute Wirtschaftspolitik die Grundlage für einen funktionierenden Sozialstaat, für kulturelle Vielfalt oder ein gutes Bildungssystem.
Frage: Kann Ihrer Meinung nach ein Katholik die FDP wählen? So haben die Abgeordneten im Europa-Parlament in diesem Jahr gefordert, den Papst wegen dessen Äußerungen zur AIDS-Bekämpfung in Afrika in den Menschenrechtsbericht des Parlaments aufzunehmen. Sind Ihre Kollegen da über das Ziel hinaus geschossen oder können Sie sich mit dem Vorstoß identifizieren?
WESTERWELLE: Diesen Vorstoß hat es so nie gegeben. Ich kann mir nicht nur vorstellen, dass Katholiken FDP wählen, ich kann Ihnen vielmehr versichern, dass Millionen Katholiken es tatsächlich tun. Unser liberales Weltbild ist bestimmt von vier Grundwerten: Freiheitlichkeit, Weltoffenheit, Toleranz und Leistungsgerechtigkeit. Wer diesen Kompass zu seinem eigenen macht, ist bei uns bestens aufgehoben.
Frage: Sie fordern, die Ehe und schwule Lebensgemeinschaften gleichzustellen. Wie verträgt sich das mit dem grundgesetzlich verankerten besonderen Schutz von Ehe und Familie?
WESTERWELLE: Vorher habe ich von der Freiheit zur Verantwortung gesprochen. Wir bejahen es ausdrücklich, wenn Menschen aus freier Entscheidung heraus Verantwortung füreinander eingehen. Unser höchstes Gericht hat klargestellt, dass der Ehe nichts genommen wird, wenn andere Formen des Zusammenlebens nicht benachteiligt werden. Vielleicht kann ich Sie nochmals überraschen: Wir stehen ausdrücklich hinter dem grundgesetzlich verankerten Schutz von Ehe und Familie. Das ist doch einer der Gründe, weshalb wir im Steuerrecht gerade die kleineren und mittleren Einkommen und ganz besonders die Familien besser stellen wollen. Wir fordern, dass Kinder endlich denselben Grundfreibetrag wie Erwachsene haben. Bei uns zahlt eine vierköpfige Durchschnittsfamilie erst ab 40 000 Euro Jahreseinkommen überhaupt Steuern.
Frage: In den Siebzigern hat die FDP das Papier verabschiedet: Freie Kirche im freien Staat. Das hatte eine sehr laizistische Stoßrichtung. Das hat sich mittlerweile komplett geändert. Warum?
WESTERWELLE: Es mag so sein, dass sich mancher gesellschaftliche Konflikt überlebt hat. Ich persönlich glaube jedenfalls nicht, dass der Unterschied zwischen religiös gebundenen Menschen und anderen, die eher glaubensfern sind, heute die zentrale Rolle spielt.
Frage: Halten Sie in diesem Zusammenhang die Kirchensteuer für ein Zukunftsmodell?
WESTERWELLE: Wir wollen ein neues, faires Steuersystem bei der Lohn- und Einkommensteuer und wir halten es für eine unglaubliche Entgleisung, dass bei der Erbschaftsteuer Geschwister wie Fremde behandelt werden. Da wollen wir ran, das hat Vorrang.
Frage: Wie kann man das Dilemma von Freiheit und Sicherheit etwa in der Terrorabwehr und -bekämpfung so gestalten, dass beide ins Gleichgewicht kommen?
WESTERWELLE: Indem man nicht so tut, als könne man die Freiheit verteidigen, indem man sie aufgibt. Rot-Grün unter Otto Schily und Schwarz-Rot unter Wolfgang Schäuble haben die Bürgerrechte scheibchenweise zurückgestutzt. Wir sind dagegen, dass jeder Bürger quasi unter Generalverdacht gestellt wird. Wir halten es für alarmierend, dass es den gläsernen Bankkunden, den gläsernen Patienten und den dauerüberwachten Internet-Benutzer gibt. Wir wollen doch nicht in einem Land leben, das Obrigkeit und Untertanen hat, sondern wir wollen eine aktive Bürgergesellschaft.
Frage: Würden Sie zustimmen, dass die gegenwärtige Finanzkrise vor allem durch die Gier einzelner bedingt worden ist? Das heißt, kann nur moralische Erneuerung aus der Krise helfen?
WESTERWELLE: Natürlich gab es grobes individuelles Fehlverhalten, und es gab massives staatliches Versagen. Regulierung ist eine Staatsaufgabe, und hier hat der Staat versagt. Wir haben schon Anfang des Jahrzehnts gefordert, dass die Bankenaufsicht nicht zersplittert wird. Darf ich daran erinnern, dass das Finanzministerium federführend zuständig ist, und die SPD-Finanzminister der vergangenen elf Jahre hießen Oskar Lafontaine, Hans Eichel und Peer Steinbrück.
Frage: Was unterscheidet das Marktverständnis der FDP von dem der Wall Street?
WESTERWELLE: Wir sind für die soziale Marktwirtschaft. Wir sehen den Handwerker, den Freiberufler und den Mittelständler als Beispiel, denn der haftet persönlich für jede seiner Entscheidungen. Es wird nur noch über ganz unten und ganz oben gesprochen, über Hartz IV oder Heuschrecken. Die ganz normale Mitte wird dabei vergessen. Um die kümmert sich nur noch die FDP. Ich will nicht, dass der, der arbeitet, der Depp der Nation ist, und ich will auch nicht, dass sich ganz normale Menschen ihr ganz normales Leben kaum noch leisten können. Wir machen Politik für das ganze Volk in Deutschland. Wir sind eine bürgerliche Partei und keine amerikanische Bank.
Frage: Das sogenannte bürgerliche Lager könnte Schwierigkeiten haben, Mehrheiten zu finden. Warum sperren Sie sich deshalb gegen Jamaica? Sind ihnen die verbürgerlichten Grünenwähler, die etwa in Berlin Prenzlauer Berg leben, wirklich so fern? Könnte das Problem nicht darin liegen, dass die Grünen und Sie um dieselben Wähler werben und Sie deshalb künstlich auf Abstand gehen, um unterscheidbar zu bleiben?
WESTERWELLE: Wir werben für stabile Verhältnisse, also für eine bürgerliche Koalition der Mitte mit einer starken FDP. Wenn es für Schwarz-Gelb nicht reichen sollte, hätte doch Rot-Rot-Grün automatisch eine Mehrheit. Und dann würde daraus auch eine Linksregierung, vielleicht nach einer kurzen Übergangsphase einer erneuten großen Koalition. Genau das will ich nicht: Dass 20 Jahre nach der deutschen Einheit Sozialisten und Kommunisten wieder etwas zu sagen bekommen in unserem Land.
Frage: Wenn Sie der nächsten Bundesregierung angehören, was wird zu Ihren Prioritäten gehören?
WESTERWELLE: Faire Steuern, ein besseres und durchlässigeres Bildungssystem, eine Gesundheitspolitik, die planwirtschaftlichen Unsinn wie den teuren Gesundheitsfonds nicht mitmacht, Respekt vor den Bürgerrechten, endlich wieder eigene Abrüstungsinitiativen in der Außenpolitik, eine ideologiefreie Umwelt- und Energiepolitik ? kurzum: Wir müssen die Zukunft gestalten, statt nur die Krise zu verwalten, damit wir die Grundlage dafür schaffen, dass die Deutschen auch in 20 Jahren noch in Wohlstand leben.
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Datum: 17.09.2009 - 22:48 Uhr
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