Deutsche AIDS-Hilfe kritisiert menschenverachtende Gerichtsbeschlüsse
ID: 617704
heroinabhängiger Häftlinge auf eine Substitutionsbehandlung
zurückgewiesen. Die Justizvollzugsanstalt Kaisheim habe die
Behandlung zu Recht abgelehnt, heißt es in den bisher
unveröffentlichten Beschlüssen vom 28.3.2012. Die Substitution der
Gefangenen - einer davon HIV-positiv und mit dem Hepatitis-C-Erreger
HCV infiziert - sei medizinisch nicht angezeigt.
Dazu erklärt Sylvia Urban, Vorstandsmitglied der Deutschen
AIDS-Hilfe (DAH):
"Die Substitution steht den Gefangenen nach den Richtlinien der
Bundesärztekammer zu. Wie in bayerischen Haftanstalten üblich, wird
ihnen aus ideologischen Gründen eine wirksame Behandlung
vorenthalten. Das schädigt ihre Gesundheit und möglicherweise auch
die Gesundheit anderer Häftlinge. Das Gericht hat es versäumt, eine
unabhängige fachliche Expertise einzuholen. Die Beschlüsse sind
voller fachlicher Fehler und Missverständnisse."
Das Gericht argumentiert unter anderem, es bestehe keine Aussicht
auf Heilung. Die Gefangenen seien schon sehr lange abhängig und
hätten bereits erfolglose Therapieversuche hinter sich. Damit nennt
das Gericht genau die Kriterien, nach denen eine Substitution gemäß
den Richtlinien der Bundesärztekammer sinnvoll ist.
Die Behandlung mit einem Ersatzstoff wie Methadon nimmt schwer
Abhängigen den Suchtdruck, sodass kein Bedürfnis mehr nach
Heroinkonsum besteht. So werden gesundheitliche Belastungen
reduziert. Die Gefahr einer Übertragung von HIV oder HCV durch
gemeinsam genutzte Spritzen wird ausgeschaltet. Zugleich dient die
Substitution dem Vollzugsziel der Resozialisierung nach der
Haftentlassung.
In der Begründung des Gerichts offenbart sich demgegenüber ein
erschreckendes Menschenbild: Dem einen Gefangenen attestiert der
Richter, er suche "bewusst die Illegalität". Im anderen Fall betont
er, die JVA habe bei dem Häftling "völlig zu Recht" eine "antisoziale
Persönlichkeitsstruktur" ausgemacht.
"Von einem Verständnis der Abhängigkeit als behandlungsbedürftiger
Krankheit fehlt hier jede Spur", sagt DAH-Haftexpertin Bärbel Knorr.
"Die Sucht als Charakterschwäche darzustellen, kann man nur
menschenverachtend nennen. Die Begründung der Gerichtsbeschlüsse
entbehrt jeder fachlichen Grundlage."
Der Stellungnahme einer auf Substitution spezialisierten Ärztin
der Deutschen Gesellschaft für Suchtmedizin (DGS) maß das Gericht
keine Bedeutung bei. Es bestehe auch "keinerlei Grund zu dieser
medizinischen Frage ein Sachverständigengutachten einzuholen" und an
der Einschätzung der Anstaltsärzte zu zweifeln. Diese aber haben
offenbar nicht die suchtmedizinische Ausbildung, die sie zu
Substitution und entsprechenden Expertisen befähigen würde.
Alles deutet darauf hin, dass die Substitution aus prinzipiellen
Gründen abgelehnt wird. Während Bundesländer wie Nordrhein-Westfalen,
Baden-Württemberg und Berlin die Möglichkeiten zur Substitution in
Haft ausbauen, ist diese hoch wirksame präventive Maßnahme in Bayern
weiter verpönt und wird nur in Ausnahmefällen gewährt.
Sogar laufende Substitutionstherapien werden durch Inhaftierung
beendet. Das zeigt ein weiterer aktueller Fall: Ein erfolgreich
substituierter Mann kam nach einem kurzzeitigen Rückfall in Haft, wo
man ihm die Weiterbehandlung verwehrte. Die Haftanstalt überließ den
Mann seiner Sucht und damit erheblichen gesundheitlichen Risiken.
Laut Bayerischem Strafvollzugsgesetz müssen Gefangene eine genauso
gute medizinische Behandlung erhalten wie Menschen in Freiheit. Gemäß
Artikel 60 haben sie Anspruch auf Krankenbehandlung, wenn diese
notwendig ist, um eine Krankheit zu erkennen, zu heilen, ihre
Verschlimmerung zu verhüten oder Krankheitsbeschwerden zu lindern.
"Diese Rechte werden in Bayern durch die Verweigerung von
Substitution fortwährend missachtet", sagt DAH-Vorstand Sylvia Urban.
"Die Landesregierung steht in der Pflicht, das medizinische Personal
in den Anstalten aus- und weiterzubilden, damit auch in Haft eine
bedarfsgerechte Versorgung von Suchtkranken gewährleistet ist."
Weitere Informationen und die Gerichtsbeschlüsse als PDF:
http://ots.de/R1Xdy
Pressekontakt:
Holger Wicht
Referent für Öffentlichkeitarbeit/Pressesprecher
Tel. 030 69 00 87 16
holger.wicht@dah.aidshilfe.de
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Datum: 17.04.2012 - 10:26 Uhr
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