BERLINER MORGENPOST: Keine Angst vor Wecken / Leitartikel von Hajo Schumacher
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Blasorchester "Blechschaden" spielt vor nahezu ausverkauftem Haus, an
jedem Notenpult baumelt eine Flagge. Trompeter Unterrainer stammt aus
Tirol, Kollege Segers aus Belgien, Matthias Fischer aus Franken, Dany
Bonvin aus der Schweiz. Und Dirigent Bob Ross, ein Schotte,
bestreitet den Abend durchweg mit angestaubten Regionalwitzen. Der
geizige Schotte, der langsame Franke, der Belgier als historisches
Missverständnis, um die Franzosen zu ärgern. Wurde geschossen
anschließend? Nö. Berlins Bildungsbürger amüsierten sich prächtig, je
platter die Scherze wurden. Wohliges Fremdeln ist kein Fremdenhass,
sondern Selbstvergewisserung. Abgrenzung ist wichtig und oft
unterhaltsam, hat mit tumber Ausgrenzung aber nur selten zu tun.
Scherze über andere Kulturen entfalten ihren Zauber vor allem, wenn
sie sich durch Überspitzung selbst absurdisieren. Insofern hat es
eine gewisse Komik, wenn ausgerechnet unser demokratisches Gewissen
Wolfgang Thierse die Lehre vom reinen Berlinersein predigt.
"Schrippe" oder "Wecke" - diese Debatte ist so wichtig wie "Handy"
gegen "Mobiltelefon" und primär der notorischen Berliner Lust an
volkstümlicher Unterhaltung geschuldet. Den Gegenentwurf zum spaßigen
Umgang mit der Herkunft und ihren Begriffen schafft Tom Wolfe in
seinem neuen Roman "Back to Blood". Der Großdichter zeichnet das Bild
von einem Miami, aufgeteilt in Reviere, die mit aller Gewalt
verteidigt werden. Exilkubaner, neureiche Russen, Latinos und
gebotoxte Pensionäre fühlen, leben im Kampf entlang ihrer gefühlten
Blutlinien. Hier herrscht kein folkloristischer Schrippenkrieg,
sondern ein brutaler Kampf der Kulturen, geprägt von Angst und Neid
und Hass. Von Miamis Verhältnissen ist die gutmütige deutsche
Hauptstadt trotz manch verwahrloster Gewalttäter weit entfernt. Ob
vor gut 300 Jahren die Hugenotten, im vorvergangenen Jahrhundert das
Heer der Industriearbeiter, ob Russen, Türken und demnächst ein
Schwung Südeuropäer - immer hat Berlin die Neuen integriert, von den
Wowereits aus Ostpreußen bis zu Thomas Heilmann aus dem Ruhrgebiet.
Wie knapp muss das metropolitane Selbstbewusstsein ausgeprägt sein,
um niedliche Kolonialisierungsversuche einer Handvoll Provinzler
ernsthaft zu kritisieren. Sollen die Neuen auf ihren
stoppersockengewienerten Dielenböden doch ihren neobiedermeierlichen
Großstadtschwank aufführen. Hier naht nicht die Scharia, sondern
schlimmstenfalls ein anstrengender Dialekt. Warum den
Baden-Württembergern und anderen Besser-Berlinern nicht ihre
imperialistischen Fantasien belassen, solange sie mit ihren Steuern
den Abenteuerspielplatz Berlin klaglos mitfinanzieren? In ein, zwei
Generationen werden die einstigen Schwabenkinder ohnehin gnadenlos
berlinern, einen Bogen um jeden Besen machen und endlich gute Musik
hören. Ob Hertha oder Union, Döner oder Currywurst, Schwabe oder
Kirgise - in Berlin ist Platz für alle, die die anderen in Ruhe leben
lassen.
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Datum: 03.01.2013 - 20:05 Uhr
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